Dienstag, 20. Oktober 2009

Nächster Halt: Wahnsinn

Ich nehme es mir heraus nach Jahren der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf sie zu verzichten. Aus Gründen! Ich weiss, dass das nicht sonderlich umweltfreundlich ist, zumal ich alternativ mit dem Auto fahre, aber das alles liegt nur daran das ich so umweltbewußt bin. Ja, wirklich. Ich bin mir meiner Umwelt zu sehr bewußt, als dass ich noch gerne Bahn fahren würde.

Neulich wollte ich mal eben schnell zu einer Freundin, um mit ihr gemeinsam ein Projekt zu erarbeiten. An einem Samstag. Um 11 Uhr vormittags. Und weil ein anschließender Kinobesuch , Biere eingeschlossen, geplant war, beschloss ich meine Vorurteile, meine Spießbürgerlichkeit und meine dünnen Nerven daheim zu lassen und ohne sie mit der Bahn zu fahren.

Ich steige im gutbürgerlichen Vorort ein, denke euphemistisch: "Geht doch." Da sehe ich, dass die ältere Dame im Vierer mir gegenüber 2 alte, volle Plastiktüten dabei hat. Menschen die Plastiktüten älteren Datums in der Bahn mit sich rumfahren machen Ärger. Erfahrungswerte. Die Bahn fährt an und die Durchsagen die der Fahrer über die Leitstelle in die Fahrerkabine bekommt, dürfen wir alle mithören, weil er seine Lautsprecher nicht ausgemacht hat. Die Ohren der Tütendame sind offensichtlich nicht mehr die besten, denn im Glauben der Lärm komme aus der Reihe hinter ihr dreht sich um und schreit ein paar Jugenddliche an: "Watt soll denn datt, macht ihr datt zuhause auch, oder watt, datt is ja schrecklisch mit eusch, haltet die Klappe!" Sie dreht sich wieder um, aber ihr mundartlichen Beschwerden ob der lauten Jugend von heute lassen nicht nach. Sie pöbelt freimütig vor sich hin, während die Jugendlichen sie ignorieren. Ich kralle mich in mein Taschenbuch. Versuche mir die Sätze sozusagen im Kopf laut vorzulesen, um mich auf das Buch und nicht auf die Greisin zu konzentrieren. Ich blicke kurz nach links und bereue es sofort als ich sehe, das sie nur deswegen leiser schimpft, weil sie nun ihr Aufmerksamkeit der offene Stelle an ihrem Bein widmet, die sie gerade unter einem alten Verband entblöst.

Ich ekel mich, erst weil das Bein so fies aussieht und dann vor mir und meiner Borniertheit und dann wieder vor dem Bein.

"Leitestelle an alle Linien auf der Strecke Ebertplatz - Ringe, mer hann he ne Störung an der Signalanlage, ett kann zu Rückstau un Waatezig kumme, bitte informieren Sie ihre Fahrgäste, mir mache su schnell mer künne..."

Die Alte regt sich wieder auf und brüllt die Teens an, die langsam ihren Spaß an der Verwechslung haben und sich zunehmend amüsieren. Unnötig zu sagen, dass das die Alte noch mehr aufregt.

So geht es weiter. 20 min lang. Und ich bin froh endlich aussteigen zu können. Ich hatte weder vor mir vor dem ersten Kaffee offene Beine anzuschauen, noch Pöbeleien über meinen Kopf hinweg ausgetragen zu erleben. Die Haltestelle an der ich umsteigen muss liegt oberirdisch und da sie Sonne scheint an diesem Spätsommertag freue ich mich wirklich auf den kurzen Zwischenstop ohne Teens und fiese Beine.

Ich steige aus, lehne mich an ein Gitter, atme tief durch und warte. Ein paar Männer treffen sich auf dem Bahnsteig. Sie begrüßen sich und bieten sich gegenseitig Bierflaschen an, die sie in Tüten und alten Rucksäcken mit sich tragen. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass zumindest 2 dieser 3 auf der Strasse leben. Gerade kommt die Bahn. Einer der Männer schenkt dem anderen sein letztes Bier. Das finde ich nett. Die Tüte aus der er das Bier zog knuddelt er hinter das Wartehäuschen. Während ich einsteige kommt eine Rentnerin angelaufen. Ihr strenger Haarknoten passt so verdammt gut zu ihr. Sie hat die Tüte gegriffen. Knallt sie dem Mann vor die Brust. Er schaut sie verwirrt an. Rührt sich nicht. Die Tüte rutscht langsam an ihm herab. Sie nimmt die Tüte erneut auf und knallt sie ihm wieder vor die Brust:"Das macht an nicht!" schreit sie hysterisch. Er seinerseits empört erwidert:"Watt willste? Hast du ne Macke?". Vor der Szene schließen sich die Bahntüren und ich merke, dass mir das alles viel zu viel ist für eine einfache Hinfahrt. Ich bin noch nicht einmal angekommen und möchte schon wieder ins Bett. Die nächsten drei Monate Bahnfrei sind beschlossene Sache!